Der Teufel mit dem Engelsgesicht

Vorwort

Moselufer und Eifelschluchten. Wer bewundert sie nicht die steilen oder sanft ansteigenden Hänge eines der schönsten Flussläufe Europas mit den Terrassen für die köstlichsten Rebsorten, die weltweit eine hohe Anerkennung für sich verbuchen. „An der Mosel sind die Gemüter froh“, so heißt es in Zeitschriften für kulinarische Genüsse. Vielleicht deshalb, weil viele berühmte Lagen ihre Besucher einladen, sie hautnah selbst zu erklimmen, um die Trauben direkt an ihrem Rebstock zu erfühlen. Am Fuße der Höhen dagegen fließen in zahlreichen Straußwirtschaften die edlen Tropfen bereits durch die Kehlen einiger anderer Genießer. Der beliebte Riesling zählt zu einer der bekanntesten Sorten neben anderen klassischen Mosellieblingen. Zu nennen lohnt sich hier der Elbling, der Spätburgunder, Regent oder auch Rivaner.
Wer heute der Landschaft zwischen Moselufer und Eifelhöhen einen Besuch abstattet, denkt auch an das vielfältige Panorama von Schlössern, Burgen, Burgruinen, Klöstern und Abteien, vielfach Denkmäler vergangener Tage, die umarmt von dicht bewaldeten und tief eingeschnittenen Schluchten mit ihren schmalen Pfaden zwischen Höhen und Tiefen gern die Säume ihres nahen Flusses berühren.
Manchmal muss man sie richtig suchen, die schmalen, verwunschenen Passagen zwischen den Weingewächsen hinauf zu den Anhöhen. Ein erster Blick auf die Weiten einer Eifel ist von dort aus möglich. Dort breitet eine andere Welt ihre Flügel aus. Naturliebhaber erfreuen sich an der üppigen Flut von Eichen-, Buchen- und auch Mischwälder aller Art, fühlen sich unweigerlich in den Bann gezogen, die stillen Geheimnisse von Flora und Fauna unterhalb dieses tiefgrünen Blätterdachs ergründen zu wollen. Wanderer marschieren über Traumpfade, klettern über den Eifelsteig, suchen neuen Ziele auf dem Moselsteig.
Doch wer fasziniert ist von den tiefblauen Eifelmaaren, schmalen dennoch zornig rauschenden Bachläufen zwischen steil aufragenden Schieferfelsen, wo Wildkatzen neben Raubvögeln eifrig ihr Revier verteidigen, ist geneigt zu übersehen, dass diese überquellende Üppigkeit an Natur zwischen Rhein und Mosel über einige Jahrhunderte hinweg immer wieder der heftigste Schauplatz war von unliebsamen Naturereignissen und vor allem von wiederholten kriegerischen Auseinandersetzungen.
Doch wo so manch‘ schlimme Dinge toben, die Verwüstungen und Zerstörungen in verheerender Weise die Menschen für sich vereinnahmen, sie quälen, um ihr Hab und Gut und um ihren Seelenfrieden bringen, da erscheinen aus dem Nichts auch andere Phänomene.

Und einige von diesen Geschichten möchten wir heute erzählen. Sie sind möglicherweise Erbschaften dieser ausgesprochen unruhigen Zeiten, die jene zahlreichen und unbeschreiblichen Verletzungen und Wunden mit sich brachten, die so schnell nicht geheilt werden konnten. Wir können dieses heute nur noch vermuten.
Aber auf jeden Fall sind es Begebenheiten, von denen heute keiner mehr so genau weiß, ob sie so und nicht anders wirklich gewesen sind. Vielleicht haben Sie Lust, diesen Begebenheiten zu folgen und sich selbst ein Bild zu machen. War es so oder ist es vielleicht doch anders gewesen? Lassen Sie sich überraschen!

Letzte Gedanken des Räubers Hans Bast Nikolai

 

Und Jesus spricht:“ Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ -
Und ich bin Hans Bast Nikolai. Ich lasse den soeben gehörten Bibelvers noch einmal durch die Nervenbahnen meines Körpers reisen und empfinde eine tiefe Befriedigung. Keiner hat dem Tod so oft in die Augen gesehen, niemand seinen heißen Atem so häufig in seinem Nacken gespürt, seine Kraft so brennend in den Adern gefühlt wie ich. Aber, wo der Tod bestimmt, da herrscht auch das Leben. Wer kann das besser sagen als ich? Niemand hat so viele einsame Menschen glücklich gemacht wie ich, so vielen Erkrankten Hoffnung geschenkt, Verirrten im Moment ihres verelendeten Daseins zu Sinn verholfen.
„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand findet den Weg zur Allmächtigkeit denn durch mich……“
Ich bin einer der Räuber der berüchtigten Moselbande, deren Taten die Friedensrichter und Kommissare über viele Jahre in Atem hielten. Der Spuk der Überfälle jener berüchtigten Horde begann mit der Besetzung der Franzosen des Rhein-/Mosellandes im Jahr 1794 und endete am 01.09.1799, als dreizehn Männer vor dem Schwurgericht in Coblenz ihren Prozess erwarteten. Die Aussagen von insgesamt 71 Zeugen wurden aufgenommen. Die Gerichte verhandelten insgesamt 36 Taten, welche sie den Gaunern zur Last legten, davon zahlreiche Pferdediebstähle. Weiterhin gingen auf ihr Konto Erpressung, Straßenraub, Brandstiftung, Körperverletzung, Raub mit Mordversuch sowie insgesamt acht Morde. Am Ende aller Ermittlungen sind die Richter zum Ergebnis gekommen, ich sei der Rädelsführer gewesen jenes Haufens zügelloser „Entmenschlichung“, der Planer im Hintergrund und ich…..war es auch. Aber so ganz genau weiß das niemand und wird je ein Mensch erfahren. Denn ich bin der letzte Verurteilte dieser Runde und auch mit mir dauert es nicht mehr lange. Es ist fünf Uhr morgens und in zwei Stunden wird man mich holen und dann durchschreite auch ich den Vorhang vom Diesseits zum Jenseits.
Wenn Chronisten eines Tages meinen Weg beschreiben, weht nur ein zarter Hauch von Ahnung darüber wie ein flüchtiger und rascher Wind. Immer wird es heißen: „Näheres ist uns hierzu nicht bekannt.“
Was werden sie schreiben? Es wird lauten: im Jahr 1794 tauchte im Ort Krinkhof, Nähe Hontheim ein Mann auf, der vom ersten Moment an aufgrund seines Erscheinens den ganzen Ort in seinen Bann zog. Seine herausragende Größe, seine dunklen Augen, sein wohlgestaltetes Gesicht und sein Auftreten brachte sofort Unruhe in die Dorfbevölkerung. Zwei Töchter links und rechts von seinem Gang, beide schön und groß wie er, verstärkten seinen Glanz, erhöhten die Aufmerksamkeit um alles, was ihn ausmachte. Er selbst gibt sein Geburtsdatum mit 1750 an und selbstverständlich stammte er aus einer ehrbaren Hofmannsfamilie. Bonsbeuren war der Ort seiner Kindheit. Zeitzeugen behaupteten, Hans Bast Nikolai habe kurz nach seiner Ankunft einer jungen Frau aus dem Ort derart heftig den Hof gemacht, dass sie gar nicht anders konnte, als diesen Mann mit seinen starken Armen und warmen, sanften Händen schnell zu heiraten.
Eine Kaserne in Trier war mein Zuhause, bevor dieses Dorf am Rande des Kondelwaldes meine neue Heimat wurde. Zehn Jahre lang war ich ein Flügelmann bei den Grenadieren einer Eliteeinheit der Kurtrierer, stationiert in der Nähe des Kurfürstenpalast. Bis der Krieg im Jahr 1792 ausbrach, war dies die schönste Zeit meines Lebens.
Unser Kompanieführer nannte sich Graf von Mercandin. Bei so einem wohlklingenden Namen erwartet man eine blendende Figur. Aber nicht von Mercandin. Er war ein Aufschneider ohne jeglichen Mumm, ein Nichtsnutz im Feld und ein Feigling vor dem Herrn. Unsportlich wie er war, gab er einen schlechten Soldaten ab und einen jämmerlichen Reiter. Krummbuckelig hockte er bei unseren Drillübungen auf seinem Schimmel, auf welchem er bar jeglicher Gefühle für die Bewegungen seines armen Gaules hin und her rumpelte wie ein Sack mit Blei.
Von Mercandin muss meine Gedanken geahnt haben. Ich weiß, mit meinem hohen Wuchs und schneidig breiten Schultern war es meine Gestalt, die während der Paraden vom zuschauenden Volk Augen an den Schranken die meisten Blicke erntete. Und einer jener Blicke schwankend zwischen bohrendem Unglaube und abgrundtiefer Missgunst gehörte ihm. Die Zeit dehnte sich bald bei den zähflüssigen Wiederholungen seiner immer gleichen Rituale fast jeden Morgen. Er tänzelte mit seinem Schimmel vor meiner Stellung. Seine Augen taxierten mich gleichzeitig von oben bis unten. Fast körperlich spürte ich, wie er in Gedanken an jeder Faser meines Körpers entlangglitt, sie ertastete, um sie dann langsam, unendlich langsam zwischen seinen spitzen, weißlichen Fingern zu zerquetschen. “Rührt euch!“ tönte sein Appell laut und vernehmlich Momente danach über den weiten Platz. Ich glaube, bereits in diesen Momenten begann er zu planen, wie er mich am besten zerstören kann.
Eine Frau hatte mir schließlich diesen Untergang eingebracht. Und sie war seine Frau. Gräfin Helena Christina von Mercandin war eine geborene Gräfin von Blankenstein, eine Nichte des hochdekorierten Generals Graf Ernst Paul Christian von Blankenstein, ein wunderschönes Geschöpf, welches ich liebte, wie ich nie mehr einen Menschen zuvor geliebt habe und danach nie mehr einen Menschen lieben werde. Aber nicht nur ihr Gesicht war traumhaft, ihr Wesen, ihre Haltung, ihre Klugheit, alles war anbetungswürdig. Als ich ihren Namen zum ersten Mal hörte, sah ich, ohne weiter nachzudenken, eine verwachsene, kleine Frau mit großen Ohren, vorstehender Unterlippe und hängenden Augenlidern vor mir. Aber dann…kam alles ganz anders und ich, ich war nur noch gefangen in der Sucht nach ihrer Nähe, ihren Atem immer wieder brennen zu spüren..
„Hans Bast Nikolai. Es ist so weit. Gehen wir!“
Was werden die Chronisten eines Tages als Nachruf über mich schreiben.
Sein Haus war der Sammelplatz von allen Räubern, bis die Moselbande im Jahr 1799 endgültig zerschlagen wurde. Der Auftakt hierfür bildete der Frieden von Campo Formio zwischen Napoleon und Franz II. von Habsburg am 17.10.1797. Als Generalregierungskommissar wurde Franz Rudler ins Amt geholt, dem es dann gelang, effektive Verwaltungsreformen in vier rheinischen Departements durchzusetzen. Die Franzosen ließen zu, dass eine berittene Gendarmerie endlich gegen kriminelles Gesindel ermittelte. Hans Bast Nikolai erwies einen guten Instinkt für den Geist der Zeit. Denn er beeilte sich, als Kronzeuge vor Gericht gegen seine eigenen Komplizen aufzutreten, bis die Verhafteten Richard Bruttig, Johann Jakob Krämer, Niklas Dahm, Johann Enk, Niklas Schwarz und Heinrich Simonis am 11.09.1799 zum Tode verurteilt wurden. Weitere Räuber wie Georg Schenk, Niklas Kohl und Ernst Peter Simonis erhielten langjährige Kettenstrafen und 14 Jahre Gefängnis. Hans Bast beabsichtigte wohl mit seiner Aussage den Richtern zu imponieren, erwartete, sie mit seiner Schlagfertigkeit, Verstand und seinem Auftreten vor Gericht für seine Person einzunehmen. Doch diese Rechnung ging nicht auf. Das Geständnis des überführten und verurteilten Räubers Christian Hohscheid holte ihn ein, der sich für den Verrat an den Komplizen rächte und Nikolai alle in dieser Zeit begangenen Morde in die Schuhe schob. Die Richter glaubten dem verwahrlosten Müller aus Reil.
Lange soll Nikolai davon überzeugt gewesen sein, sein Prozess sei nichts anderes als ein Schauspiel, lediglich um ihn zu erschrecken. Als es Nikolai nach der fünftägigen Audienz vor Gericht allmählich dämmerte, dass er das Spiel doch verloren hatte, ging folgender Austausch zwischen dem Richter und ihm in die Geschichte ein.
„Wie kam es, dass Ihr Haus der Sammelplatz aller Verbrecher und Mörder war?“, fragte der Vorsitzende Richter Lebens. „Oh, nein Citoyen Collegue“, erwiderte Nikolai, „nicht alle sind bei mir eingekehrt, denn ich habe Sie noch niemals dort gesehen.“
Es ist ein kalter Spätnovembertag im Jahr 1801, als Nikolai das Blutgerüst hinaufklettert. Nikolai hebt noch ein letztes Mal seinen Kopf in die Höhe und erkennt, wie die Sonne mit ihrer Helligkeit soeben die Erde begrüßt. Sie ist in Begleitung von weiten und breiten Bändern von Schleierwolken. Sie schimmern so feuerrot über das Land, dass sie blenden. Nikolai schaut sie kurz an und schließt die Augen.