Der Geier auf dem Schornsteinsims

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Covertext

„Von einer Rasselbande von Mördern und Hals-abschneidern bin ich umgeben“, kreischt Dr. Cornelius Hackebeil bereits teilverwirrt durch den Großraumwagen eines Zuges. Während dieser Reise trifft Hackebeil, ein selbstständiger Unternehmer die promovierte Biologin Anuschka Peters. Entrückt flüstert er durch das überfüllte Abteil wie bedroht er sich fühlt von Gott, der Welt und vor allem von seinen Mitarbeitern. Wüste Schlingpflanzen schicksalhafter und auch abscheulicher Geschichten quellen aus seinem Munde und winden sich durch Anuschkas Ohren, wie die Menschen seines Betriebes das Leben für sich zurecht biegen oder auch gebogen werden. Gleichzeitig säumen verschiedene Landschaftsbilder während der Fahrt seine abenteuerlichen Schilderungen. Dennoch, seine Verwirrung hat System. Er selber jedoch ahnt nicht, wo die tödliche „Spitze“ tatsächlich auf ihn lauert.

Textprobe

Anuschka Peters war keine Frau, die auf den ersten Blick einem Mann den Atem nahm. Während andere Weibsbilder in ihrem Alter gerade zur aufreizenden Reife erblühen, Kurven unter Textil Sehnsüchte wecken, Blicke versprühen, die den Empfänger in Anflügen von Energiewahn dazu treiben, Berge anzuzünden, sich in Ozeane zu stürzen, um im rasenden Lösch­wasser auszukühlen, glitten suchende Blicke über Anuschka hinweg, als trüge sie im Pakt mit den Mächten eine Tarnkappe. Dabei war sie im landläufigen Sinne keineswegs unappetitlich gebaut. Ganz im Gegenteil. Ihre Größe stand kurz davor, als hochgewachsen bezeichnet zu werden. Ihr Busen zeichnete sich gerade und wohlgerundet, geschützt und unberührt unter ihrer Kleidung ab, ihre Beine waren schlank, ihre Waden und Ober­schenkel verspielt gedrechselt, ihr Bauch flach und ihr Becken schmal und polsterlos geschnitten wie das einer Sportlerin. Nächtlichen Sumpf kannte Anuschka nicht, und Zigaretten­konsum, um mit den Kollegen ihres Alters mitzuhalten, war ihr fremd. So konnte kein früher, unbedachter Verschleiß ihren Porzellanteint trüben und auch kein bleierner Kater ihren freien Blick verschleiern, mit dem sie aus rostkastanienfarbenen Augen ihr Umfeld um sich herum aufmerksam musterte.

Anuschka Peters war heute in Eile. Sie verreiste. Nun gut, an jenem Morgen eilte Anuschka auf eigenen Füßen zur Front wissenschaftlicher Austauschformeln. Anuschka fuhr grundsätzlich in der ersten Klasse, sobald ihr eine längere Zugfahrt bevorstand. Anuschka liebte die Stimmung in den Waggons der ersten Klasse. Für sie waren es Orte der Ruhe. Brillen mit dezenter Goldumrandung studierten ohne überstürzte Bewegungen ihre Überlegungen und unternahmen keine Anstalten, unbescholtene Mitreisende unter ein konfuses Leben mischen.
„Ja, ja merkwürdige Menschen begeben sich heutzutage auf Reisen. Früher war das anders, da war Luftveränderung nur etwas für Leute, die es sich auch leisten konnten. Nun trifft man allerlei Gewürm und Gesindel selbst drüben in der zweiten Klasse, finden Sie nicht?“, fuhr ihr Gegenüber fort.
Anuschka erinnerte sich an ihr Gepäck und blickte zur Kontrolle für einen kurzen Moment unter den Tisch. Sie registrierte, ihre Stoffasche kauerte in der Finsternis leicht eingesunken zwischen ein paar vergessenen Staubflocken. Daneben entdeckte sie übereinandergeschlagene Beine, mit einem Paar Füßen, so flach und quadratisch geformt wie ein Paket Fugenmasse, welches sie hilfreich zur Isolierung zugiger Fensterläden kannte. Mit einem Blick auf den Tisch erkannte Anuschka schmale, filigrane Hände. Am Ende der Handrücken befanden sich Finger, so dünn und schmal wie gerade angespitzte Beistifte. Die leicht gekrümmten Bleistifte waren mit dunklen relativ starken Haaren bewachsen. Anuschka musste den Gedanken fast gewaltsam abwehren, dass diese schmalen, wie mit dunklem Darmgarn bewachsenen Finger sie an Spinnenbeine erinnerten, die kurz in Konzentriertheit verharren, bevor sie sich entschlossen auf ihr Opfer stürzen.
„Entschuldigen Sie, ich will Sie gar nicht belästigen. Ich glaube, ich bin heute etwas aufgeregt. Ich hoffe, ich nerve Sie nicht zu sehr. Wissen, Sie normalerweise ist es gar nicht meine Art, so viel zu reden, und zu fremden Menschen schon gar nicht. Ich habe keine Zeit, mich Leuten zu widmen, die ich nicht kenne. Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Doktor med. phil. pharm. rer. nat. Cornelius Hackebeil. Freunde nennen mich auch Cookie, somit Cookie Hackebeil.“
„Mein Laden setzt sich nur aus ganz besonderen Menschen zusammen.“ Hackebeil rückte über dem Tisch näher an Anuschka heran, er flüsterte nun: „Haben Sie gehört, nur besondere Menschen. Allen, allen habe ich geholfen. Und glauben Sie mir, ich habe es gern getan.“

Anuschka zögerte nicht. Sie öffnete die Tür und entdeckte ihn: ihren Märchenerzähler von der gestrigen Zugfahrt:
Schlaff hing er in einem großen schwarzen Konferenzstuhl. Die Augen halb geschlossen, die Beine weit von sich gestreckt. Die Arme hingen leblos seitlich über die Lehnen. Da lag er, als würde kaum noch lebendiges Blut durch seine Adern rauschen. Dr. med. phil. pharm. rer. nat. Cornelius Hackebeil.
Anuschka ertastete kurz seine Halsschlagader und erkannte, dass sein Atem ausgesprochen flach war. „Na, gut, bei dieser schwachen Gehirnleistung, die offensichtlich noch stetig sinkt, kann die Puls- und Atemfrequenz gar nicht höher sein“, dachte sie.
Anuschka zog ein feines Ledertuch aus einem Seitenfach ihrer Damentasche, legte es auf die Klinke und schloss leise die Tür zu Hackebeils Arbeitszimmer hinter sich. „Hoffentlich tritt nicht zuviel Blut aus seinen Augenwinkeln. Wie sie als Nebenwirkung das Aufplatzen von feinsten Äderchen hinter dem Augapfel vermeiden konnte, das musste sie noch erforschen. Es liegt eben doch noch reichlich Arbeit vor uns“, überlegte sie weiter, während sie das Tuch unauffällig in ihre Tasche gleiten ließ.

Die örtlichen Polizeisprecher gaben einvernehmlich die folgende Meldung an die Presseagenturen weiter:
Der Unternehmer Dr. Cornelius Hackebeil ist tot. Die Gerichtsmediziner stellten in den frühen Morgenstunden des 18. Oktober dieses Jahres ein unerwartetes Herzversagen fest. Zuvor befand sich Hackebeil in einem Tiefschlaf, den Mediziner als einen Erschöpfungszustand diagnostizieren, der auf ein so genanntes „Burn-out-Syndrom“ (Arbeitsüberlastung) zurückzuführen sei. Der Wissenschaftler Hackebeil war bekannt für seine spektakulären Errungenschaften auf dem Gebiet der Alternativmedizin, die seine gesamte körperliche und geistige Kraft gekostet hatten. Sein Unternehmen, welches eigens zur Herstellung neuartiger biologischer Medikamente gegründet wurde, hatte in den letzten sechs Jahren einige Produkte sehr erfolgreich auf dem Markt der Naturheilkunde eingeführt.
Als Helfer in der Not, damit das führungslose Unternehmen nicht dem Chaos zum Opfer fällt, erwies sich die promovierte Biologin Dr. Anuschka Peters.

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Artikel II Lesung Walldorf(1)
Lesung in Walldorf